Liebe Aikido Eltern, Kinder, Jugendliche und Erwachsene,

Ich öffne meine Augen, schaue auf die Uhr. In 10 Minuten klingelt der Wecker. Draußen ist es noch dunkel. Ich schließe nochmals die Augen, schlafe aber nicht mehr. Ich gehe in mich hinein, denke und fühle. Was mache ich eigentlich hier, wieso bin ich hier? Ich begebe mich an einen so fremden Ort immer wieder, gebe mich her, trainiere unter unglaublich strenger Aufsicht, ich schufte mich ab und komme immer wieder an meine körperliche und mentale Grenze…. warum mache ich das? Ich fange an meinen Körper zu spüren…… alles ist etwas steif, verschiedenste Muskeln tun weh…. die Gelenke…… sie werden es noch eine Woche durchhalten. Eine weitere Woche. So viel hergeben, so viel vermissen….. Ich stehe auf und begebe mich in meine tägliche Routine. Futon zusammen falten, anziehen. Vorhänge aufziehen, Küchentür aufschließen, Wasserkessel aufsetzen. Hund ausführen, umziehen, Zähne putzen, Kontaktlinsen rein, Wasserflasche Füllen, Kaffee trinken…..vor dem Morgentraining ist es verboten zu essen, der Magen soll zur Meditation und zum Training leer sein…..nur Tee oder Kaffee ist erlaubt. 5 Minuten noch dann starte ich zum Tanrenkan. Ein ganz kurzer Moment zum Innehalten, sehen ob mir jemand von der anderen Seite der Welt über die Nacht geschrieben hat, ein kurzer Lichtblick, ein kurzer aufhellender Gedanke an zuhause…..und los geht es. Der müde Körper und das schwere Gemüt fangen langsam an sich durch den dumpfen Morgen zu bewegen, doch auch die Aufregung vor dem Morgentraining macht sich so langsam bemerkbar…zu dieser Zeit der einzige Motor, der mich dazu bringt mich aufzuraffen. Dojo-Schlüssel nicht vergessen und auf mit dem Fahrrad zum Tanrenkan. Darauf sitzend genieße ich die Morgendämmerung und die Luft. Eine alte japanische Dame, die bereits im Garten Unkraut jätet begrüße ich mit einem „Ohayogozaimasu“. Ich bekomme ein herzliches Lächeln mit dem japanischen „Guten Morgen“ zurück.
Im Tanrenkan läuft alles nach Routine…. Licht an, Fenster aufmachen, und meiner schwierigsten Aufgabe nachkommen die viel Konzentration und Genauigkeit am frühen Morgen erfordert: die Kamidana putzen, den riesigen shintoistisch/buddhistische Altar. Ich habe 45 Minuten dafür Zeit, es darf hinterher kein einziges Staubkrümelchen mehr zu sehen sein und bei den vielen Dingen die darauf rumstehen, muss ich mir ganz genau merken was wo hingehört.
Ich bin rechtzeitig fertig um noch alles für die Meditation vorzubereiten und dann kommt auch schon Sensei zur Tür rein. Wir verbeugen uns mit einem lauten Ohayogozaimasu, darauf begibt er sich zur Kamidana, zündet Kerzen und Räucherstäbchen an, immer ein Moment der Aufregung, ob ich auch alles richtig gemacht habe. Er sagt nichts, korrigiert nichts……gut…..
Sensei schlägt acht mal die Klangaschale, einer der schönsten Momente am Morgen, ich schließe dabei die Augen und genieße wie der Ton im Raum verschwindet und meine Aufregung mitnimmt…ich komme zur Ruhe. Jetzt beginnt Sensei mit den Gebeten, ungefähr 20 Minuten rezitiert er für die allgemeine Okami, die Gottheit, für O-Sensei, den Begründer des Aikido, für Morihiro Sensei seinen Vater, für die Aikido Lehrer und Freunde die in den letzten zwei Jahren viel zu früh verstorben sind, für Buddha, für Fudomyoo und Aizenmyoo, zwei Schützer…..meine Knie schmerzen bereits von langem Hinknien…….
Nun beginnt die Meditation, hierfür setzen wir uns auf einen Hocker… eine Stillemeditation…wie lange macht er sie wohl heute? 4, 8 oder sogar 16 Minuten?Gestern war es die lange…….
7 Sekunden einatmen, 7 Sekunden Luft anhalten, 7 Sekunden ausatmen, 7 Sekunden Luft anhalten und wieder von vorne. Die Gedanken auf den Atem und den Blick auf die Kerzen gerichtet gelingt es mir heute tatsächlich eine Weile nichts zu denken….. bis der Wecker klingelt. Eine letzte Verbeugung, dann: Onegaeshimasu! Los gehts! Schnell noch die Hocker wegräumen und Licht machen, die restlichen Fenster auf und Ventilatoren anmachen. Ich warte gespannt auf Senseis Anweisung was wir diesen Morgen trainieren werden. Heute gibt Sensei mir ein echtes Schwert in die Hand, obwohl ich das schon einige Male gehalten habe, staune ich wieder erneut über das Gewicht, die Energie, vielleicht die Seele wie die Japaner glauben, die in so einem Schwert steckt. Mit Ehrfurcht packe ich das Schwert aus, mache es bereit für den Einsatz. Übungen mit der echten Klinge, sogenannte Aiki Nukisashi, oder Übungen des Schwert Ziehens machen wir sehr selten. Das ist ein Geschenk von Sensei an mich, ein besonderes, eine Wertschätzung, da ich so oft zu ihm in sein Dojo nach Japan komme. Wir machen uns mit ein par simplen Übungen warm, jetzt kommt die erste Form, die erste Kata, die Sensei genau zwei mal vormacht, dann setzt er sich zur Seite auf seinen Hocker und schaut mir mit strengem Blick zu. Mein Gesicht ist bereits schweißnass, denn die Luftfeuchtigkeit ist heute besonders hoch. Mit einem lauten „Hai“ ziehe ich schnell das Schwert und beginne die Abfolge, ich spüre wie sich meine Energie, die meines Körpers und meines Geistes, verstärkt durch die scharfen Blicke von Sensei in das Schwert übertragen. Am Ende der Kata: Sanshin…… die Konzentration halten, der Blick bleibt nach vorne auf einen Punkt gerichtet während ganz langsam, fast meditativ das Schwert wieder in die Scheide zurück geschoben wird, der Körper sich aufrichtet und entspannt. Kurzes Innehalten, weiter fokusieren, die Ruhe genießen in diesem Moment, zwischen dem Jetzt und der nächsten einer Reihe an unendlich wirkenden Wiederholungen des selben Bewegungsablaufes. Ich trete zurück….. Sensei scheint zufrieden zu sein. Ich ziehe erneut, begebe mich in Kraft und Energie hinein, als wäre es das letzte mal in meinem Leben, dass ich diese schöne Form mit diesem Körper durchführen kann……Ruhe, Konzentration, Kontrolle, Fokus…… Eine Stunde lang üben wir vier verschiedene Schwert Katas, doch die Zeit verliert sich in Energie und Raum und so bin ich überrascht und fast etwas enttäuscht als Sensei mit einem bestimmenden „Owarimasu“ die knisternde Atmosphäre zum Erliegen bringt, das Morgentraining ist für heute beendet. Wir knien uns hin und verbeugen uns mit Sensei nochmals gemeinsam vor der Kamidana und sagen „Arigatougozaimashita“, Dankeschön……. dann geht er. Bevor die übliche Routine nach dem Training wieder beginnt halte ich einen kurzen Moment inne und spüre…..ich spüre die Energie, ich spüre die Konzentration, ich spüre mich. Die Arbeit an Präzision in Bewegung, Konzentration und gleichzeitiger Energie hat mir gut getan, mein Körper ist immer noch elektrisiert…….. und die vorhin gestellte Frage erscheint mir auf einmal so hinfällig, denn genau das ist es, genau darum mache ich das, für diese magischen Momente liebe ich es hier zu sein und zu trainieren, mich hinzugeben und mein Ego zuhause zu lassen. Meinen Sensei mit Dankbarkeit und Hingabe bei seinen täglichen Arbeiten unterstützen, auch wenn es entbehrungsreich ist, es lohnt sich, ich bekomme so viel zurück.
Ich stehe auf, schnappe mir den Besen und mit neu gewonnener Energie und Tatkraft, ja mit Freude fege ich nochmals das Dojo, bevor ich alles schließe und mich zum Frühstück begebe.
